Die Blickfolge ist ein zentrales Thema des Lehrbuchs. Auf ihr basiert die ganze Wahrnehmungslehre, die ich hier vermitteln will. Aus diesem Grund werde ich mich ausführlich dazu äußern:

Die Augen sind von ihrer ursprünglichen Veranlagung und Funktion her ein Selbsterhaltungsorgan, auch ein Überlebenshilfeorgan könnte man sie nennen. Sie dienen vornehmlich zum Erkennen und Unterscheiden von für das Leben notwendigen oder aber gefährlichen Dingen und Situationen, zum Finden von Nahrung, erkennen von Freund und Feind, beurteilen von Örtlichkeiten, dem Bewahren des Gleichgewichts in Zusammenarbeit mit dem Innenohr, oder um Äußeres mit dem Inneren des Menschen in Einklang zu bringen, um schließlich auch aus diesem Harmoniebestreben heraus, die Welt zu gestalten.
Durch das Sicherheitsbestreben als archaisches Verhalten des Menschen, zeichnet sich das Auge als ein sehr unruhiges Organ aus. Es muß in sekundenschneller Arbeit den Raum taxieren, gleichzeitig dem Gehirn Gefahr oder Entspannung melden können, um notwendigerweise eine schnelle Flucht oder eine andere sinnvolle Handlung zu ermöglichen. Durch seine Unruhe ist das Auge in einer ständigen Aufnahmebereitschaft, es will erkennen, es will sehen. Diese Unruhe, die ja eine Notwendigkeit zum Überleben ist, können wir uns bei der künstlerischen Arbeit zunutze machen. Auch die Veranlagung, ständig Beziehungen herstellen zu wollen, in dem es sich von Formen und Linien und Bewegungen reizen läßt können wir im künstlerischen Arbeitsvorgang übernehmen. Durch das lineare Suchen und Beziehungen im Gefundenen herzustellen wird es dem Gehirn über die visuelle Wahrnehmung möglich zu einem Erkennen und Verstehen des Gesehenen zu gelangen. Kann das Auge durch ein Überangebot von Reizen, keine lineare Verbindung mehr aufbauen, meldet das Gehirn ein Gefühl der Unlust, und es entsteht ein Desinteresse. Diese Reaktion kann man auch bei einem Überangebot an alle anderen Sinnesorgane feststellen. Auf diese Unlust kann aber auch das Moment des Einsetzens einer Kritik zurückgeführt werden. Ganz intuitiv wird diese physiologische Tatsache in allen Gestaltungsbereichen wie Kunst, Design, Architektur, Innenarchitektur angewendet.
In der kunstwissenschafltichen Forschung werden auf diese Weise Bildzusammenhänge und Thematik untersucht. Eigenarten eines bestimmten Künstlers oder einer ganzen Stilepoche können so gefunden werden. Bildkonstruktionslinien, d.h. Kompositionslinien werden durch die Anwendung der Blickfolge nachvollziehbar.
Die Blickfolge zu erlernen, ist ein wesentlicher Schritt zum Wahrnehmen von Bildern, zum kreativen Sehen und Arbeiten. Um sich darin auszubilden, bedarf es lediglich des Sichanvertrauens an die Sehbewegungen des eigenenen Auges, und des Willens, alles , was sich einem bietet, auch zu sehen, anzusehen. Hinsehen!
Sehende Menschen sind oft für andere unbequeme Menschen, und leider wird ihnen häufig in der Kindheit schon das Hinsehen abgewöhnt, weil es Fragen aufwirft, die beantwortet werden müßten, und eventuelle Ängste oder andere negative Gefühle hervorruft. Als Erwachsener diese Fähigkeit wiederzuerlangen, ist nicht einfach, und nicht selten mit weiterreichenden Konsequenzen verbunden. Mut und Unerschrockenheit braucht man dazu. In der Kunst gibt es die Formulierung vom kalten Blick der rücksichtslos sieht, alles wahrnimmt und feststellt, ohne Kompromisse. Er hat etwas gemein, mit dem ursprünglichen Sehen, das noch kein Tabu kennt. Kunst spielt sich meist im Rohen, Ungeglätteten und Ungeschönten ab, und wird von dort aus in eine andere Form transponiert.
Die Blickfolge kann man überall trainieren. Man versucht einfach, sich der Bewegung der Augen zu überlassen, indem man der Augenbewegung folgt. Sehr bald kann man die räumliche Durchdringung des Auges nachvollziehen, das ständige Durchkreuzen in allen Richtungen, nach oben , diagonal, nach unten, vor und zurück, dies alles in mehrmaligen Abläufen, und ständigem Sichrückversichern des bereits Gesehenen. Bis das Gehirn meldet: Verstanden. Dabei fällt auf, daß das Auge kaum über die Konturen einer Form wahrnimmt, sondern in einem wiederholten Ablauf die Dinge diagonal durch den Raum durchdringt.
Nur eines braucht man zu dieser Übung: Geduld, Ausdauer, aktive Gelassenheit und eine Lust am Sehen.
Um die Anwendung der Blickfolge beim Zeichnen zu üben:
kleine Blickfolge
a die endlose Linie ( Kontur und Form )
b die empfundene Linie ( Kontur - Form - Oberfläche )
Übung: Ein Gegenstand z.B. ein Stiefel mit der endlosen Linie

Um das Vertrauen in das eigene Sehen und Wahrnehmen zu entwickeln und zu stärken, empfiehlt es sich, häufig das Blindzeichnen zu üben. Dabei wird möglichst ohne auf das Blatt zu sehen gezeichnet, um eine von Vorgaben oder fragwürdigen Ansprüchen und Sehdiktaten befreite Zeichnung herstellen zu können, was eine kreative Darstellung hemmen würde. Das Ergebnis einer solchen Zeichnung sollte aus diesem Grund keinesfalls mit einer realistischen Zeichnung verglichen werden, die ja auch nur eine unter vielen Möglichkeit in der Kunst darstellt. Es geht nicht um das Abzeichnen eines Motivs, sondern um das Erlernen des von mir so genannten, und schon erwähnten Simultanen Zeichnens . Dies ist zu erreichen durch die gleichzeitige Arbeit des Auges und der zeichnenden Hand.
Man konzentriert sich dazu bewußt längere Zeit auf den zu zeichnenden Gegenstand, und führt, ohne zu unterbrechen, oder den Bleistift vom Papier zu nehmen, diesen mit der endlosen Linie mit Hilfe der Blickfolge durch den Gegenstand. Bei momentanen Stockungen, diese zulassen, stehenbleiben, und erfühlen, wohin die Blickfolge weiter führt. Dabei fällt auf, wie langsam das Auge etwas abtastet, wie es oft hin und herschweift, an manchen Stellen besonders oft, an anderen wieder weniger oft, und - daß es Stellen gibt, die nicht beachtet werden. Diese sollten auch nicht nachträglich eingefügt, und sozusagen, ausgefüllt werden, um die dargestellte Logik des stattgefundenen Sehens nicht zu zerstören.
WICHTIG: immer an der Stelle zu zeichnen beginnen, auf die der 1. Blick spontan fällt ....
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